Abschlussbericht
Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg / SFB 485 (Konstanz):
Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration
Bericht über die dritte und letzte Förderphase 2006-2009, Allgemeiner Teil
1 Wissenschaftliche Entwicklung des Sonderforschungsbereichs
Der Einrichtungsantrag des Sonderforschungsbereichs nannte als wesentliches Ziel des Verbundes die Erforschung sozialer Ordnungs- und Strukturmuster in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Dabei war vorausgesetzt, das Soziale in einer kommunikations- und medientheoretischen Perspektive zu erfassen. Dies bedeutet, soziale Institutionen nicht als Ausfluss von Interessen, Macht oder auch anthropologischen Grundkonstanten des menschlichen Wesens zu begreifen, sondern als Formung kommunikativer Operationen, in denen Sinn so konditioniert wird, dass kommunikative Anschlüsse wahrscheinlich und erwartbar werden. Kommunikation meint dann nicht die bloße Übertragung von Informationen, sondern dass Alter und Ego die Mitteilungen der jeweils anderen Seite als Information beobachten – als Daten, die einen Unterschied machen – und diese in die jeweils eigenen Sinnhorizonte einbauen. Dieses Verstehen wird dann möglicherweise wiederum Grundlage einer Mitteilung. Das Besondere dieses Verständnisses von Kommunikation ist, dass es die wechselseitige Zugänglichkeit des Bewusstseins nicht voraussetzt, sondern gerade die Nichtzugänglichkeit zum Ausgangspunkt für ein Konzept des Sozialen macht, das in Operationen reproduziert wird, die auf Hervorbringung und Formung von Sinn beruhen. Entsprechend wichtig wurde der Begriff der Medien. Kommunikation vollzieht sich in Medien, indem die sie konstituierenden Elemente selektiv aus loser in strikte Koppelung überführt werden.
Für die Formung und Codierung von Kommunikation stehen zwei wichtige Instrumente zur Verfügung, die der Sonderforschungsbereich ins Zentrum seiner gemeinsamen Arbeit rückte: Normen und Symbole. Normen entkoppeln Erwartungen von der kommunikativen Reaktion auf die eigene Mitteilung. Man hält an Normen auch dann fest, wenn die Erwartung enttäuscht wird, aber mit Normen wird meist auch bereits eine Selbstbindung definiert. Es ist dann festgelegt, welche Reaktionen beispielsweise auf Erwartungsenttäuschungen zu erfolgen haben. Während Normen auf die Selektivität kommunikativer Operationen zielen, sind Symbole auf Semiosen und Bedeutungskonstitution orientiert. Wir haben Symbole von Zeichen unterschieden, die als Referenten auf anderes hinweisen. Symbole hingegen verbinden Beobachtungen und Informationen, indem sie das Signifikat appräsentieren.
Dieses kommunikationstheoretische Konzept des Sozialen führt zu Verschiebungen bei einer Reihe von weiteren Begriffen. Während konventionelle Sozialtheorien Integration häufig über Konsens und Anpassung oder Übereinstimmung definieren, setzt ein kommunikationstheoretisches Konzept gerade bei der Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnungsbildung an. Soziale Ordnungsmuster erscheinen dann als selektive Verknüpfung von (Sinn-)Elementen und die Frage im Hinblick auf größere Sozialzusammenhänge oder Gesellschaften ist dann, wie viel „Verschiedenheit“ dauerhaft und mit hoher Wahrscheinlichkeit anschlussfähig gehalten werden kann. Der Begriff der Desintegration stand deswegen seit der zweiten Förderphase gleichberechtigt neben dem der Integration. Auch bei einer Reihe von weiteren sozialtheoretischen Grundbegriffen gibt es Verschiebungen. Ontologien wurden durch Kontingenzmodelle verflüssigt, Kausalitätskalküle durch Komplexitätsannahmen relativiert und Anfänge durch Emergenzmodelle in ihrer Zirkularität erfasst.
Der Verbund hat sich in seiner ersten Förderperiode darauf konzentriert, dieses Konzept zu verfeinern und es so auszuarbeiten, dass es für die unterschiedlichen Theorietraditionen in den verschiedenen kulturwissenschaftlichen Fächern, die am Verbund beteiligt sind, anschlussfähig wurde. Die zweite Förderperiode war im Schwerpunkt dem Aufbau und der Stabilisierung sozialer Ordnungsmuster gewidmet. In der dritten und letzten Förderperiode wurden die Teilprojekte und die gemeinsame Arbeit im Gesamtverbund auf die Transformation sozialer Ordnungsmuster ausgerichtet. Damit war auch eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs verbunden. Während in der zweiten Förderperiode strukturelle Zusammenhänge und ihre operative Reproduktion im Vordergrund standen, rückten in der dritten Arbeitsphase auch Diskurse stärker in den Fokus unserer Forschung, weil Stabilität wie Transformation von sozialen Ordnungsmustern auch als Resultat von Beobachtungen und Beschreibungen verstanden werden müssen. Damit wurden neue poststrukturalistische Begriffsinstrumentarien wichtiger für die Arbeit und die Diskussion im Sonderforschungsbereich. Differenztheoretische Konzepte der Sinnbildung traten in den Vordergrund und damit auch die zirkuläre, paradoxale Ausgangsbedingung aller sozialen Ordnungsmuster und Institutionen. Wenn soziale Integration von der Kontingenz kommunikativer Ordnung her gedacht wird, treten normative und wertorientierte Aspekte sowie die Frage nach Konsens und Übereinstimmung in den Hintergrund. Vielmehr wird für das Verständnis sozialer Integration die Einsicht zentral, dass aufgrund des fragilen Charakters sozialer Strukturbildung diese ihre eigene Dynamisierung und Veränderung (und das heißt: ihre Desintegration) bereits in sich trägt. Integration und Desintegration erscheinen damit nicht als Gegensatz, sondern als aufeinander bezogene konstitutive Aspekte gesellschaftlicher Ordnungsbildung. Insofern ist die Frage nach sozialer Stabilität vornehmlich auf die Fähigkeit sozialer Gefüge auszurichten, die selbst erzeugten Spannungen, Paradoxien und Konflikte als Chance der Problemdiagnose und der lernenden Anpassung produktiv zu nutzen.
Im letzten Forschungsantrag wurden entsprechend drei hauptsächliche Arbeitsfelder ausgewiesen. Wir hatten uns vorgenommen, die Typen struktureller Transformation (1) in sozialen Ordnungsmustern genauer zu analysieren; ein zweites Arbeitsfeld sollten Normierungs- und Symbolisierungsprozesse insbesondere in der Veränderung sozialer Ordnungsmuster sein (2); und drittens sollte das Verhältnis von Diskursen, Strukturen und Beobachtungsverhältnissen untersucht werden (3).
(1) Typen struktureller Transformation
Im letzten Fortsetzungsantrag wurden wesentlich zwei Formen struktureller Transformation unterschieden: die lernende Anpassung an Umweltveränderungen und Strukturzusammenbrüche, die auf Überforderung von Gesellschaften und Systemen zurückgehen, oder bewusst verweigerte Anpassung.
Die Forschungen in den Teilprojekten haben eine sehr viel größere Vielfalt von Typen und Verläufen struktureller Transformationen in den Ordnungsmustern vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften zu Tage gefördert. Versucht man sie nach Intensitätsgraden zu sortieren, so steht am oberen Ende der Skala die bewusste und gestaltete Reaktion auf Veränderungen in der externen und internen systemischen Umwelt. So muss die spätmittelalterliche Klosterreform verstanden werden als eine Reaktion der Orden auf Veränderungen in der verwandtschaftlichen Differenzierung der Adelsgesellschaft (Teilprojekt C12). Die Transformation der politischen Kultur der frühneuzeitlichen Stadt wurde wesentlich durch die gesellschaftliche Adaption von Schrift und Drucktechnik ausgelöst (B4). Am anderen Ende der Skala kann man verweigerte Transformationen identifizieren. Die sowjetische Literatur adaptierte die Ideale einer sozialistischen Gesellschaft nur sehr unvollkommen und reagierte subversiv (A10, A11). Auch die politischen Institutionen der frühneuzeitlichen Stadt wiesen eine große Trägheit auf (B4). Dies zeigt schon, dass strukturelle Transformationen sich in der Regel als fragile Prozesse darstellen, die sich im Zickzack und häufig kumulativ vollziehen, wie dies für das Rechtssystem des hethitischen Staates herausgearbeitet wurde (B9). Besonders der Übergang von der Republik zum Prinzipat im römischen Imperium verdeutlicht die prinzipiellen Schwierigkeiten der Evolution neuer, in diesem Fall: politischer Institutionen (B10). Evolution in sozialen Ordnungszusammenhängen geht langsam vor sich, nicht so sehr im Stadium der Selektion von Innovationen, sondern in der Phase ihrer Restabilisierung, weil dann die Anschlüsse an eine ebenfalls strukturierte Umwelt hergestellt und auf Dauer gestellt werden müssen. Daran scheint sich grundsätzlich zwischen Antike und Moderne nichts geändert zu haben, weil der Aufbau in Interventionsregimen in der globalisierten Welt von den gleichen Schwierigkeiten geprägt ist (B12). Die verschleierten Transformationen, wie sie in einer Untersuchung zur Veränderung frühkindlicher Sozialisationspraxis im 20. Jahrhundert herausgearbeitet wurden (A9), sind deswegen möglicherweise gelegentlich effizienter als die offen betriebene Umgestaltung.
Ausgelöst werden Transformationsprozesse sozialer Ordnung auf ganz unterschiedliche Weise. Die spektakulärste und greifbarste Variante ist das katastrophische Ereignis, etwa eines 11. September, der die Welt eine andere werden ließ (A5). Aber in solchen Fällen besteht die Gefahr, dass Sinnfigurationen überstrapaziert werden, so dass Reaktionen und Anschlüsse durch das Empfinden von Sinnlosigkeit blockiert werden. Hinzu kommt, dass selbst in modernen Gesellschaften Ereignisse krisenhafter Art einen Schwellenwert medialer Präsenz und Aufmerksamkeit überschreiten müssen, um in anderen Systemen Reaktionen hervorzurufen. Auch das zeigt die Geschichte der gegenwärtigen globalisierten Krisenintervention (B12). Interventionen hängen stark an der Initiative von engagierten „politischen Unternehmern“. Im „Normalfall“ werden strukturelle Veränderungen durch diskursive Verschiebungen ausgelöst oder durch Prozesse in anderen Bereichen und auf anderen Ebenen sozialer Ordnungsbildung. So ist die serielle Produktion von Individualität durch Styling des Körpers in den gegenwärtigen westeuropäischen Gesellschaften als eine Verarbeitung sowohl von Veränderungen im medialen Set wie auch der sozialstrukturellen Differenzierungsmuster zu verstehen (C3). Auch kulturelle Adaption, wie sie aus engem Kulturkontakt (C2) oder imperialer Überformung (B6) heraus entsteht, entfaltet transformative Kräfte. Entscheidend sind mithin mediale und strukturelle Konstellationen. Für die westeuropäischen Gesellschaften wurde betont, dass hier die Kontingenz sozialer Ordnung seit dem 17. Jahrhundert selbst zum Thema von Selbstbeschreibungen wurde (A12). Ein Projekt zur Krise des 17. Jahrhunderts konnte herausarbeiten, dass in diesem Zusammenhang der Krisenbegriff in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung prominent wurde. Er ermöglichte es der Gesellschaft, sich selbst zum Gegenstand dauerhaften und fortgesetzten Umgestaltens zu machen (A6).
Blickt man auf die kommunikativen Muster, mit denen Prozesse struktureller Transformation gestaltet werden, so erweist sich der direkte normierende Eingriff häufig als wenig erfolgreich. Er provoziert Widerstand, Subversion und Verweigerung (B6, B10, B13, C12). Auch die gewaltsam vorgetragene und geplante Intervention ruft Abwehrreaktionen hervor (B12). Erfolgreicher scheinen langfristige, „schleichende“ Umgestaltungen (B4) oder der vorsichtige, adaptive und selektive Import von externen institutionellen Modellen (B12). Erfolgreich scheint auch das lernfähige Neuarrangement vorhandener Institutionen und Strukturmuster (B10). Umgekehrt können offensichtlich angelaufene Transformationsprozesse selten aufgehalten werden. Selbst religiöse und politische Charismatiker des Spätmittelalters stemmten sich ihnen nur mit mäßigem Erfolg entgegen (C9).
In allen drei Perspektiven unterscheiden sich moderne Gesellschaften von vormodernen nach den Befunden des Sonderforschungsbereichs grundsätzlich. Während moderne Gesellschaften strukturell und diskursiv nicht nur auf Veränderungen eingestellt sind, sondern dies auch noch als ihr Konstituens in ihre Selbstbeschreibungen aufgenommen haben, sind Transformationen in der Vormoderne von überwiegend katastrophischem Charakter. Dabei ist die Zäsur dazwischen nur bedingt auf die gängigen Epochengliederungen der Historiker abzubilden. Entscheidend scheinen Umbrüche im medialen Setting von Gesellschaften zu sein, weil sich damit die Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und der Selbstbeschreibung nachhaltig verändern.
(2) Prozesse der Normierung und Symbolisierung
Auch die von den Teilprojekten untersuchten Prozesse der Normierung und Symbolisierung stellten sich in einem breiteren Spektrum von Varianten dar, als im Antrag vermutet. Normierung geschieht nicht nur durch Setzung, sie ist schon im Hethitischen Reich als vertragsförmige gegenseitige Bindung (B9) greifbar. In allen historischen und gegenwärtigen Gesellschaften ist das Recht der bevorzugte Ort der normativen Ordnung sozialer Verhältnisse (B4, B15), wobei nicht nur soziale Integration, sondern häufig auch Desintegration und Exklusion das Ziel sein kann, wie der Umgang mit Flüchtlingen und Juden im europäischen 19. und 20. Jahrhundert zeigt (B6). Auch im Recht haben Normierungsprozesse häufig additiven Charakter, schichten sich Normsetzungen aufeinander (B9, B4), gewinnen dadurch häufig an Flexibilität und Anschlussfähigkeit. Diskursive, nicht verrechtlichte Normierungen, wie sie beispielsweise in der frühkindlichen Sozialisation (A9) oder in der Ausgestaltung des „voluntaristischen Individualismus“ (C3) durch massenmedial vermittelte Körpertechniken untersucht wurden, sind keineswegs weniger wirksam als normative, verrechtlichte Setzungen. Sie scheinen zum Teil sogar eine größere zeitliche Stabilität aufzuweisen als gesatzte Normen. Die dominierende Erscheinungsform der Normen ist seit den Hochkulturen der Text. Auch Symbolisierungen können in Texten produziert oder reflektiert werden, aber die Ergebnisse der Teilprojekte machen deutlich, dass dafür die Nutzung von Schrift, Druck und noch moderneren Massen- und Verbreitungsmedien eine Voraussetzung ist. Bis dahin ist die symbolische Codierung sozialen Sinns und die Appräsentation von Ordnungsmustern auf den performativen Vollzug oder auf Bildlichkeit angewiesen. Das römische Prinzipat zeigt dies ebenso (B10) wie die spätmittelalterlichen Versuche, Ordnungszusammenhänge durch religiöse Charismatiker zu stabilisieren (C9). In den politischen Kulturen der Neuzeit werden Symbolisierungen zum Teil bewusst eingesetzt, um Normierungen performativ hervorzubringen und sie in der Gesellschaft zu verankern (B13, A6). Schrift tritt dann häufig hinzu, um der Performanz Dauer zu verleihen und sie translokal wahrnehmbar zu machen.
Damit korrespondiert, dass noch in der postsowjetischen Gesellschaft soziales Vertrauen auf Verwandte und die nähere Umgebung einer Hausgemeinschaft konzentriert ist, während in Westeuropa bei grundsätzlich höheren Integrationsschwellen auch die sozial ferneren Fremden von Vertrauensverhältnissen nicht ausgeschlossen sind. Es verwundert bei derartigen Befunden nicht, dass sich auch Generationenverhältnisse nicht nur als soziale Strukturmuster erweisen; sie können nicht zuletzt zur Symbolisierung von Strukturen und der Beziehung der Elemente in ihnen werden (A9, C10).
Prozesse der Normierung und der Symbolisierung sind grundsätzlich gekennzeichnet durch die Volatilität und Uneindeutigkeit des Sinns. Schon im Antrag wurde eine solche „Unschärferelation“ des Sinns, durch die Anschlussfähigkeit gesichert und die Plastizität sozialer Ordnungsmuster möglich wird, vorausgesetzt. In den Teilprojekten konnte dies nicht nur bestätigt, sondern durch die Untersuchung von Prozessen der Semiose im Detail nachvollzogen werden. Die Differenzsetzung, das Ziehen einer Grenze, hält das Ausgeschlossene und die negative Seite einer Unterscheidung präsent, auch wenn sie bewusst zum Verschwinden gebracht werden sollen (A5, A12). Deswegen emergieren soziale Ordnungsmuster aus zirkulären und paradoxalen Anfängen, was selbst noch in der Verbindung von Freiheit und normativer Bindung (B11) zu greifen ist. Dies führt dann dazu, dass auch in stabilen sozialen Ordnungsmustern breite Zonen der Unentscheidbarkeit auszumachen sind, die man nicht nur in Diskursen verifizieren kann (A5, A12), sondern auch in der „normativen Fluidität“ des römischen Prinzipats (B10). Der Körper scheint dabei gelegentlich mehr Halt und Eindeutigkeit zu bieten als die Schrift. Texten ist die Mehrdeutigkeit inhärent, die noch einmal potenziert wird, wenn Texte sich auf Texte beziehen (A11). Kultur kann entsprechend als der Raum identifiziert werden, in dem für systemreproduzierende Operationen jene Mehrdeutigkeit und Unentschiedenheit verfügbar gemacht wird, die operative Anschlüsse in Systemen sicherstellt und den „kommunikativen Verkehr“ zwischen den Funktionssystemen ermöglicht (A12). Dabei gibt es allerdings Anhaltspunkte, dass auch diese Produktion des Mehrdeutigen und der Zonen des Unentschiedenen wie auch die der Strukturen nicht in jeder Hinsicht beliebig verlaufen, sondern von generativen Grammatiken gesteuert werden, die sich wiederum nach kulturellen Räumen unterscheiden. Das legen jedenfalls die Ergebnisse der Teilprojekte nahe, die sich mit osteuropäischen Gesellschaften befassten (A10, A11, C2).
Schließlich machte die Untersuchung von Prozessen der Semiose auch die Bedeutung der Figur und der Narration deutlich. Beides hängt miteinander zusammen. Die Figur ist eine „Verkörperung“ sozialer Strukturen, weil sie ihnen eine „Gestalt“ gibt, die nicht in jedem Fall eine soziale Person sein muss, sondern auch das anthropomorphisierte Tier sein kann (A12). Die Figur ist stets aber auch lebendig und plastisch, weil sie nicht nur beschrieben wird, sondern eine Geschichte bekommt. Die religiösen Charismatiker des Spätmittelalters (C9), deren Charisma in den heiligen Viten expliziert wurde, unterscheiden sich in dieser Hinsicht kaum von der typologischen Konstruktion moderner Filmfiguren (C11). Der Forschungsverbund hat dieses Ergebnis der gemeinsamen Arbeit aufgegriffen und „Prekäre Figuren“ in ihrer Bedeutung für strukturelle Transformationen zum Thema der Abschlusstagung gemacht. Der Begriff „prekäre Figur“ oszilliert zwischen zwei Referenzen: Zum einen zielt er auf Personen und Personengruppen, zum anderen auf diskursive Figurationen. Mit „prekär“ wird ein Zwischenzustand beschrieben, der eine Art Niemandsland zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss, Inklusion und Exklusion bildet, und zwar im Sinne von Robert Castels „Zone der Verwundbarkeit“ und der „Entkopplung“ aus sozialen Bindungen – eine Zone, die durch ihre „prekäre Unentschiedenheit“ (Heinz Bude) und durch eine Situation des Weder-Noch gekennzeichnet ist und die insofern einen paradoxen gesellschaftlichen Ort der Ort- und Orientierungslosigkeit markiert. Prekäre Positionalität bezeichnet eine soziale Existenz, für die der Zufall, nicht zuletzt der biographische Zufall, eine besondere Rolle spielt, in der das Kontingente und Fragile sozialer Ordnungen unmittelbar erfahrbar werden und sich entsprechend Ausdruck verschaffen.
(3) Diskurse, Strukturen und Beobachtungsverhältnisse
Diskurse spielten in den Forschungen der Teilprojekte in zweierlei Form eine Rolle: Es handelte sich entweder um Selbstbeschreibungen oder diskursiv verdichtete Selbstbeobachtungen von Handlungszusammenhängen und Gesellschaften oder aber zweitens um Wissensbestände allgemeiner Art, die in Gesellschaften akkumuliert und weitergegeben werden.
Das mediale Dispositiv lässt sich ebenfalls differenzieren. Sobald Schriftlichkeit und Druck in Gesellschaften verfügbar sind, spielen Literaturen (einschließlich ihrer medialen Derivate; A10, A11, A12, C10, C11) eine wichtige Rolle. Wenn Literatur sich dann als eigenständiges Sozialsystem etabliert hat, werden Verfahren und ästhetische Programme wichtig, die den „Realitätsgehalt“ fiktionaler Texte authentifizieren, um literarische Texte weiterhin als Beitrag zum gesellschaftlichen Identitätsdiskurs werten zu können. Der nachrevolutionäre russische Dokumentarismus stellt einen solchen Versuch dar. Ein zweites mediales Dispositiv wird in Öffentlichkeiten greifbar. Seit der raschen Akzeptanz der Drucktechnik in den westeuropäischen Gesellschaften der Neuzeit sind Massenmedien der institutionelle Kern dieses Dispositivs, das dann gesellschaftliche und systemische Selbstbeobachtung tragen wird (A6). In der Vormoderne nehmen Öffentlichkeiten andere Formen an. Kommunikation unter Anwesenden bringt es mit sich, dass Beobachtung nur unvollkommen gegenüber systemischen Operationen ausdifferenziert werden kann. Man kann von „integrierten Öffentlichkeiten“ sprechen, in denen Beobachten von Politik beispielsweise immer auch schon (oder noch) politisches Handeln darstellt (B4). Integrierte Öffentlichkeiten sind deswegen performativ. Sie erscheinen als Auflauf, Zusammenrottung, sie werden inszeniert als Supplikation und als ritualisierte Übergabe von Forderungskatalogen (B4, C12). Diese performative Dimension sozialer Symbolisierung ist vermutlich einer der Gründe, warum der Körper von den frühen Hochkulturen bis in die moderne Gegenwart zu einem bevorzugten Medium der Symbolisierung des Sozialen und seiner Ordnung geworden ist. Mit dem Konzept der „Vergesellschaftung unter Anwesenden“ vor der Integration von Gesellschaften durch Schrift und Drucktechnik ist dafür in einem der Teilprojekte ein theoretisches Modell entwickelt worden (B4). Als ein drittes Dispositiv, mit dem im Antrag nicht gerechnet wurde, erschien deswegen in der Arbeit der Teilprojekte der Körper und die mit ihm verbundenen Praktiken. Der Körper wurde nicht nur als Medium der Symbolisierung gesellschaftlicher Ordnungsfigurationen genutzt, sondern konnte auch als Beobachtungs- und Reflexionsinstanz der Gesamtgesellschaft (A12) oder ihrer Teilsysteme begriffen werden. Dies gilt insbesondere für mit dem Körper verbundene Praktiken wie etwa Reinigungspraktiken (C2), aber auch Praktiken der Körperformung des „voluntaristischen Individuums“ (C3) in den Gegenwartsgesellschaften. Umgekehrt schreibt das Soziale sich dem Körper immer auch direkt ein, sei es durch Exklusion, die sich am Körper festmacht (B6), oder auch durch Grenzziehungen, die sich über Körperkontakte und deren Vermeidung manifestieren, und im Umgang mit den Ausscheidungen des eigenen oder anderer Körper (C2). In der Literatur Sowjetrusslands werden der Körper und seine Sprach- und Performanzfähigkeit explizit in Stellung gegen die Schrift und den Logos gebracht (A11) und noch in der Gegenwart zeichnen sich osteuropäische Gesellschaften durch eine stärkere Körperorientierung aus als die westeuropäischen (C2). Im Diskurs über AIDS artikulieren sich negative Imaginationen oder Imaginationen der Auflösung des Sozialen (A5).
Das Verhältnis von Diskursen der Selbstbeobachtung und der Wissensbestände zu operativ reproduzierten Struktur- und Ordnungsmustern wurde ebenfalls in ganz unterschiedlichen Konstellationen erforscht. Die auch im Antrag bereits erwartete Variante war die Stabilisierung. Sie erwies sich aber dann als erfolglos, wenn sie verordnet wurde, wie im Fall des sozialistischen Realismus (A10) oder auch der Öffentlichkeitspolitik faschistischer Regime (B13). Das mag damit zusammenhängen, dass soziale Systembildung sich aus der paradoxalen Entfaltung zirkulärer Anfänge heraus stabilisieren muss, um erfolgreich und dynamisch zu sein. Anfänge zu imaginieren ist jedenfalls eine weitere wichtige Funktion von system- oder gesellschaftsbezogenen Beobachtungsdiskursen. Diese Anfänge müssen so imaginiert werden, dass sie nicht aus Elementen des Systems bestehen, gleichwohl aber im System anschlussfähig sind (A12). Katastrophische „Nullstunden“ wie 9/11 können, auch wenn sie zunächst „Sinnlosigkeit“ vermitteln, gerade weil sie die Kontingenz des Sozialen zur Anschauung bringen, eine ähnliche Begründungsfunktion für Ordnung übernehmen (A5). Erfolgreicher als die „verordnete“ Stabilisierung von Ordnungszusammenhängen ist offenbar die interessierte Beobachtung, die das „Tatsächliche“ festhält und damit Fakten schafft. Das lässt sich bei spätmittelalterlichen Berichten über die Visitation von Klöstern ebenso festhalten (C12) wie im Prozess der Verstaatlichung von Herrschaft, die zu konzentrierter Macht auch mit Hilfe von Beschreibungen wird (B4), wie auch an der semantischen Emergenz des „Flüchtlings“ in den europäischen Gesellschaften seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert (B6). Ein ähnlicher Zusammenhang ergibt sich bei internationalen Interventionen in Konflikt- und Krisenregionen. Sie sind von einer bestimmten Intensität und Art der medialen Thematisierung abhängig (B12). Weder ein interessierter Bias noch kritische Distanz scheinen diese produktive Wirkung von Diskursen der Selbstbeobachtung zu beeinträchtigen. Auch im Fall des römischen Prinzipats gewinnt man den Eindruck, dass die institutionelle Emergenz der Monarchie durch einen (antimonarchischen) republikanischen Diskurs wenn nicht überhaupt erst möglich, so doch wesentlich gestützt wurde (B10). Insofern lassen sich die Wirkungen von Kritik an normativen Setzungen (B11) nur schwer prognostizieren (C12) und auch der „entordnende“ Diskurs (A5) hat, wenn er diskursive und operative Anschlüsse findet, strukturbildende Wirkung. Die Ergebnisse der Teilprojekte stützen die Hypothese, dass visuelle Medien hier funktionaler sind, weil sie Uneindeutigkeiten besser vermitteln als lineare Texte. Generell bestimmen Modalitäten gesellschaftlicher Selbstbeschreibung die Handlungsmöglichkeiten in sozialen Systemen und Gesellschaften. Das wurde in den Forschungen zur langsamen Adaption des Krisenbegriffs in der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung seit dem 17. Jahrhundert deutlich, der Gesellschaft auf fortgesetzte Veränderung und politisches Handeln auf Dauerintervention einstellte und gleichzeitig die Vermittlung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch ein transitorisches Zeitverstehen so wandelte, dass aus dem Nacheinander von Ereignissen kausale Verknüpfungen wurden (A6).
(4) Methode und Gesamtentwicklung
Der Sonderforschungsbereich wurde von Anfang an durch die Grundsatzentscheidung bestimmt, nicht eine bestimmte thematische oder epochale Engführung vorzunehmen, sondern der gemeinsamen Arbeit ein konturiertes, aber bewegliches und entwicklungsfähiges theoretisches Konzept des Sozialen zugrunde zu legen. Das hat sich bewährt. Dieses Konzept wirkte als methodische Matrix, die eine füreinander anschlussfähige, vergleichbare Sicht auf ein breites Spektrum von unterschiedlichen Forschungsgegenständen über Disziplinen und Epochengrenzen hinweg ermöglichte. Die vergleichsweise abstrakte Begrifflichkeit des Verbundes bildete dabei eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Befunde über große Zeiträume hinweg aufeinander bezogen werden konnten, ohne die Gegenstände zu enthistorisieren. Das Konzept war gerade umgekehrt durch die Betonung des Medienaspektes auf eine genaue historische Verortung der Forschungsgegenstände in den Teilprojekten gerichtet. Die gemeinsame Diskussion im Verbund war deswegen zu jedem Zeitpunkt von einer gehaltvollen Empirie getragen. Diese thematische Vielfalt des Sonderforschungsbereichs hat seine Entwicklung begünstigt und auch dynamisierend auf das theoretische Konzept zurückgewirkt. Standen am Anfang Kommunikation, Normen, Symbole und Integration im Zentrum, so wurden im Verlauf der gemeinsamen Forschung auch Rituale, Performanzen, Figuren und Narrative wichtig. Insofern ist die wissenschaftliche Entwicklung dieses Sonderforschungsbereichs nicht durch Engführung gekennzeichnet, sondern durch methodische Dynamik und thematische Diversifizierung.
2 Entwicklung der Kooperation im Sonderforschungsbereich und Außenwirkung des Sonderforschungsbereichs
In seiner wissenschaftlichen Struktur ist der Sonderforschungsbereich von Anfang an durch ein breites Spektrum der beteiligten Geistes- und Sozialwissenschaften und durch eine ebenfalls breite historische Spreizung vom Alten Orient bis zur Zeitgeschichte gekennzeichnet. Die interne Vernetzung und der interne wissenschaftliche Austausch erfolgten neben der gezielten Kooperation zwischen einzelnen Teilprojekten durch ein zentrales plenares, zunächst 14-tägiges Kolloquium, zu dem neben Referenten aus den Teilprojekten regelmäßig auswärtige Gäste eingeladen wurden und das seit 2006 zusammen mit dem Exzellencluster EXC 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ durchgeführt wurde. Die Referate liegen in einer grauen Reihe („Diskussionsbeiträge“) gedruckt vor.
Zentrale größere Tagungen hat der Sonderforschungsbereich im Verlauf der drei Bewilligungsabschnitte viermal veranstaltet, in der letzten Förderphase die Programmtagung „Imagination und Illusion. Verschleierungen und Verblendungen in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften“ (04./05.05.2006) und die Abschlusstagung „Prekäre Figuren – Politische Umbrüche“ (26.-28.11.2009). Zudem wurden kleinere Workshops organisiert, die dem Austausch zwischen dem Sonderforschungsbereich und anderen Forschungsverbünden (unter anderem dem EXC 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“) dienten, so etwa vom 2.-3. Juli 2008 der Workshop „Ausschließung – Grenzüberschreitung – Assimilation. Figuren und Grenzen der Inklusion und Integration“, der gemeinsam vom SFB 485, dem EXC 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ und dem Trierer SFB 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“ veranstaltet wurde.
Wesentlich für die Intensivierung der internen Zusammenarbeit im Sonderforschungsbereich waren dabei zwei Formen des projektübergreifenden Austausches:
(1) Arbeitsgruppen: Nachdem sich diese Form des internen Austausches bereits in den ersten beiden Bewilligungsphasen bewährt hatte, haben sich in der letzten Bewilligungsphase insgesamt drei Arbeitsgruppen formiert: „Transformation von Identität(stheorien)“, „Legitimationsstrategien“ und „Kulturen der Selbstbeobachtung in/ von/ nach gesellschaftlichen Umbrüchen und Wandlungsprozessen“. In ihnen haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sonderforschungsbereichs über unterschiedliche, für das gemeinsame Forschungsprogramm zentrale Thematiken diskutiert und ihre Forschungen präsentiert; die Arbeitsgruppen haben dabei auch Workshops unter Einbeziehung auswärtiger Gäste veranstaltetet. Die Ergebnisse der Diskussionen in den Arbeitsgruppen dienten dabei auch als Grundlage für den Klausurworkshop des Sonderforschungsbereichs 2008. Sie sind zudem dokumentiert in drei Heften der „Diskussionsbeiträge“ (Nr. 82-84).
(2) Klausurworkshops: In der letzten Bewilligungsphase wurden zwei zweitägige interne, für alle Mitglieder des Forschungskollegs verpflichtende Workshops veranstaltet (26./27.01.2007, 18./19.04.2008), auf denen zum einen die Teilprojekte ihre Forschungsvorhaben und zum anderen die Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse zur Diskussion gestellt haben.
Insgesamt haben sich diese kleineren, flexibleren Formate für die wissenschaftliche Integration eines Forschungsverbundes als überaus produktiv erwiesen. Auf diese Weise ist es dem Sonderforschungsbereich über die Jahre gelungen, ein intensives und dichtes Milieu des wissenschaftlichen Austausches zwischen den verschiedenen Fachkulturen aufzubauen. Wesentliche Voraussetzung dafür war auch die unhierarchische, wechselseitige kollegiale Wertschätzung der am Sonderforschungsbereich beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in der intensiven Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern und Teilprojektleitern zum Ausdruck kam. Die Belastbarkeit dieses gewachsenen Milieus wissenschaftlicher Kooperation zeigte sich dann in der erfolgreichen Beantragung eines Exzellenzclusters schon in der ersten Ausschreibungsrunde, das im Thema die Grundidee und Ergebnisse des Sonderforschungsbereichs aufgriff und dann in seiner Einrichtung auch von der Kooperationserfahrung der am Sonderforschungsbereich bereits beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler profitierte. Beide Verbünde fanden dann auch schnell zu gemeinsamen Veranstaltungen (Kolloquium) und zu projektübergreifenden Kooperationen, so dass der Sonderforschungsbereich zu einer wesentlichen Stütze in der Implementierungsphase des Clusters wurde.
Die wissenschaftliche Arbeit und Kooperation im Sonderforschungsbereich wurde über den Gesamtzeitraum hinweg wesentlich auch durch das Engagement des wissenschaftlichen Nachwuchses getragen. Der Sonderforschungsbereich hat deswegen alle Initiativen des Nachwuchses auf Gründung von Arbeitsgruppen, eigene Workshops und Tagungen stets unterstützt und finanziell gefördert.
Eine besondere Maßnahme zur Förderung des Nachwuchses war die seit zehn Jahren auf Initiative von Bernhard Giesen hin durchgeführte Konstanzer Meisterklasse. In einer zehntägigen Veranstaltung erhalten Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, die aus einem internationalen Bewerberkreis ausgewählt werden, Gelegenheit, ihre Forschungen vor international renommierten Gastwissenschaftlern zu präsentieren und sie mit ihnen zu diskutieren.
Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Sonderforschungsbereich war insgesamt nicht ausschließlich auf wissenschaftliche Karrieren gerichtet. Eine Umfrage bei den Teilprojekten aus Anlass des Berichts ergab, dass in 11 von 21 dokumentierten Fällen (52 Prozent) ein außerwissenschaftlicher Berufseinstieg möglich wurde. In den anderen Fällen schließt oder schloss sich an die Tätigkeit im Sonderforschungsbereich eine weitere Betätigung in der Wissenschaft an.
Als sehr wichtig für die interne Organisation des Sonderforschungsbereichs erwies sich die Tätigkeit eines engagierten Wissenschaftlichen Koordinators und die Besetzung der Verwaltungsstelle durch gut ausgebildete und engagierte Verwaltungsangestellte. Gerade an dieser Stelle wirkte die Tarifstruktur des öffentlichen Dienstes dauerhaft als latentes Hindernis. Der Wissenschaftliche Koordinator unterstützte den Sprecher und den Vorstand nachhaltig bei der konzeptionellen und institutionellen Weiterentwicklung des Sonderforschungsbereichs und rief eine ganze Reihe von Initiativen für Arbeitsgruppen, Kooperationen, Workshops und interne Tagungen ins Leben, so dass in seiner erfolgreichen Arbeit ein wesentlicher Grund für die Verdichtung der internen wissenschaftlichen Kooperationen liegt. Wichtig war dabei, dass die Koordinatoren jeweils auch forschend in die Arbeit des Verbundes eingebunden waren.
Dies verweist darauf, dass sich auch in Sonderforschungsbereichen wissenschaftliche Kooperation nicht von allein und automatisch ergibt. Sie muss organisiert werden, und dabei ist das wichtigste Erfordernis neben dem Angebot von vielseitig anschlussfähigen thematischen Kernen die Rücksicht auf die Begrenztheit des Zeitbudgets der einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Bezieht man die Erfahrungen des Exzellenzclusters mit ein, so lässt sich vielleicht Folgendes formulieren: Kulturwissenschaftliches Forschen im Verbund kann nicht dem Modell arbeitsteiliger Kooperation folgen. Vielmehr ist an Netzwerke zu denken, in denen die einzelnen Teilnehmer füreinander nicht in erster Linie als Lieferanten von Wissen (gelegentlich auch von methodischen Kompetenzen) interessant sind, sondern weil von ihnen Irritationen ausgehen, die die eigene Arbeit voranbringen. Sonderforschungsbereiche in den Kulturwissenschaftlichen Fächern sind in erster Linie „Irritationszusammenhänge“. Deswegen müssen die Kooperationsformen auch umso flexibler und möglicherweise unverbindlicher werden, je größer solche Verbünde werden. Eine wichtige Rahmenbedingung ist dann aber die Professionalisierung von Leitungsstrukturen, die im Sonderforschungsbereich unter anderem in der Organisation des Zentralen Bereichs zum Ausdruck kam sowie darin, dass das Amt des (gewählten) Sprechers nicht rotierte, sondern über zehn Jahre hinweg bei einer Person lag.
Die Dichte der externen Kooperationen schlägt sich in einer Vielzahl von erfolgreichen Einladungen in- und ausländischer Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler nieder und in der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit der einzelnen Teilprojekte. Der Sonderforschungsbereich profitierte dabei von der Infrastruktur des „Netzwerkes transatlantische Kooperation“, das von Albrecht Koschorke aus Universitäts- und Landesmitteln aufgebaut wurde, um die Einladung und Betreuung ausländischer Gastwissenschaftler insbesondere aus Nordamerika organisatorisch zu unterstützen. Die Teilprojekte haben die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit regelmäßig auf der Plattform internationaler Tagungen präsentiert. Im nationalen Rahmen entwickelte sich der wissenschaftliche Austausch besonders fruchtbar mit den Sonderforschungsbereichen in Dresden, Münster, Trier und auch Tübingen, die eine ähnliche Fragestellung verfolgten und mit denen sich vielfältige Austauschmöglichkeiten ergaben. Mit dem Sonderforschungsbereich in Trier wurde ein gemeinsamer Workshop zu Problemen von Assimilation und Integration realisiert und eine gemeinsame Sektion auf dem Historikertag 2008 zu „Grenzfiguren des Sozialen“ veranstaltet. Die nationale und internationale Sichtbarkeit des Sonderforschungsbereichs war getragen vom Ansehen der an ihm beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie lässt sich ablesen an den ihnen in den vergangenen Jahren zuerkannten Ehrungen und Preisen. Zu nennen sind hier insbesondere Aleida Assmann, Julian Junk, Albrecht Koschorke, Jürgen Osterhammel, Rudolf Schlögl und Wolfgang Seibel.
Der Sonderforschungsbereich hat sich unter anderem wegen der Vielfalt der beteiligten Fächer und der in ihnen herrschenden Publikationskulturen entschieden, seine Forschungsergebnisse nicht in einer eigenen Publikationsreihe zu präsentieren. Allerdings hat die kulturwissenschaftliche Diskussion im Verbund zur Initiative für eine Reihe „Historische Kulturwissenschaften“, die beim Universitätsverlag Konstanz erscheint, geführt. Das Herausgebergremium (Bernhard Giesen, Alois Hahn, Jürgen Osterhammel, Rudolf Schlögl (geschäftsführend)) agiert unabhängig vom Sonderforschungsbereich und wirbt gezielt auch Manuskripte ein, die nicht aus der Arbeit des Verbundes hervorgegangen sind. Arbeiten aus dem Sonderforschungsbereich werden aufgenommen, wenn sie in der Qualität überzeugen und dem Profil der Reihe entsprechen. Bislang sind 14 Bände erschienen.
2.1 Veröffentlichungen aus dem Sonderforschungsbereich
Für die folgende Auswahl (40 Titel) wurden nur Monographien und Sammelbände herangezogen, die zum Berichtszeitpunkt (Anfang 2010) bereits erschienen waren:
Assmann, Aleida, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007.
Barth, Boris, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933, Düsseldorf 2003.
Barth, Boris, Osterhammel, Jürgen (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005.
Borissova, Natalia, Frank, Susi K., Kraft, Andreas (Hg.), Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhundert, Bielefeld 2009.
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3 Strukturelle Veränderungen an der Hochschule
Der Sonderforschungsbereich hat über die gesamte Laufzeit hinweg wesentlich zur Konsolidierung und Stärkung der an ihm beteiligten geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer beigetragen. Er war Anlass für eine Fachbereichsgemeinschaft der Fächer Geschichte und Soziologie, von der entscheidende konzeptionelle Impulse für die kulturwissenschaftliche Forschung in Konstanz ausgingen. Der Verbund stand stets in engem wissenschaftlichem Austausch mit dem Graduiertenkolleg „Die Figur des Dritten“ und der Forschergruppe „Grenzen der Absichtlichkeit“, deren Initiatoren und Sprecher (Albrecht Koschorke, Gottfried Seebaß) ebenfalls am SFB 485 beteiligt waren.
Bei der Besetzung der einschlägigen Professorenstellen war die mögliche Mitarbeit der Kandidatinnen und Kandidaten in jedem Fall ein wichtiges Kriterium, das in den Kommissionen, im Rektorat und im Senat jeweils ausgiebig gewürdigt wurde. Im gesamten Förderzeitraum kam es zu keiner Umwandlung einer Professur, so dass dem Sonderforschungsbereich Forschungskapazitäten verloren gegangen wären. Mit der Einrichtung einer Juniorprofessur für Zeitgeschichte (mit tenure track) hat das Fach Geschichte eine Lücke wieder schließen können, die sich durch den Wegfall einer C3-Professur im Solidarpakt aufgetan hatte. Die Beteiligung der ProfessorInnen und MitarbeiterInnen der Slavistik am Sonderforschungsbereich spielte für die positive Beurteilung des Faches in der landesweiten Evaluierung eine wichtige Rolle.
Die Sichtbarkeit der Konstanzer Geistes- und Sozialwissenschaften kommt in einer Reihe von Rufen an die am Sonderforschungsbereich beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zum Ausdruck. Rufe erhielten im letzen Förderzeitraum
- Aleida Assmann
- Ulrich Gotter
- Albrecht Koschorke
- Jürgen Osterhammel
- Andreas Reckwitz
- Rudolf Schlögl
- Gottfried Seebaß
- Wolfgang Seibel
In den meisten dieser Fälle hat die Universität Konstanz mit großem Einsatz erfolgreich Bleibeverhandlungen geführt, die häufig durch zusätzliche Mittel aus dem Sonderforschungsbereich unterstützt wurden.
Generell erfuhr der Sonderforschungsbereich über die gesamte Förderperiode hinweg eine akzentuierte Unterstützung durch die Universität. Die in den Begehungen vereinbarten Grundausstattungsverpflichtungen wurden stets ohne Abstriche realisiert. Trotz der an der Universität herrschenden Raumknappheit wurde dem Sonderforschungsbereich im Verfügungsgebäude Z ein geschlossenes Ensemble von Räumen zur Verfügung gestellt, in dem die meisten Teilprojekte untergebracht werden konnten. Diese gemeinsame Unterbringung hat den wissenschaftlichen Austausch im Sonderforschungsbereich wesentlich unterstützt und war damit eine entscheidende Voraussetzung für seine erfolgreiche wissenschaftliche Integration.
In der Lehre der Universität hat der Sonderforschungsbereich von Anfang an durch eine Vielzahl von interdisziplinären Lehrveranstaltungen gewirkt, die von ProjektleiterInnen und MitarbeiterInnen über Fachgrenzen hinweg gemeinsam veranstaltet wurden. Darüber hinaus gewann das Lehrprofil der Universität nach dem Grundsatz „Lehre aus Forschung“ auch stets dadurch, dass die Themen der Forschungsprojekte in die Lehre einflossen. Die mit der Einführung der BA-Studiengänge verbundenen Konzentrationserfordernisse haben dies freilich in den letzten Jahren etwas schwerer gemacht. Insgesamt wurden von den MitarbeiterInnen der Ergänzungsausstattung des SFB in der dritten Förderphase rund 85 Lehrveranstaltungen durchgeführt.
Dem Sonderforschungsbereich kam das Bemühen der Universität Konstanz, sich im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu qualifizieren und die Gleichstellung zu fördern, in der letzten Förderperiode sehr zugute. Die Universität Konstanz ist inzwischen als familienfreundliche Hochschule zertifiziert und hat ihre Anstrengungen, Kinderbetreuungsplätze zur Verfügung zu stellen, erheblich intensiviert. Der Erfolg dieser Anstrengungen zeigt sich vielleicht am deutlichsten am „Nachwuchs“: Insgesamt sind in den letzten vier Jahren acht Kinder von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die über die Ergänzungsausstattung finanziert wurden, zur Welt gekommen.
Die Gleichstellung wird an der Universität Konstanz durch Wiedereinstiegs- und Abschlussstipendien gefördert, die das Gleichstellungsreferat in Zusammenarbeit mit dem Ausschuss für Forschungsfragen und neuerdings auch dem Exzellenzcluster vergibt. Der letzte Fortsetzungsantrag nannte 72 Wissenschaftler, davon 19 Frauen. Diese Quote von 26 Prozent liegt leicht unter dem universitären Wert von 30 Prozent für die Jahre 2006/07.