SFB 485 - Norm und Symbol
Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration

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Abschlussbericht

Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg / SFB 485 (Konstanz):

Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration

Bericht über die dritte und letzte Förderphase 2006-2009, Allgemeiner Teil


1       Wissenschaftliche Entwicklung des Sonderforschungsbereichs

Der Einrichtungsantrag des Sonderforschungsbereichs nannte als wesentliches Ziel des Verbundes die Erforschung sozialer Ordnungs- und Strukturmuster in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Dabei war vorausgesetzt, das Soziale in einer kommu­nikations- und medientheoretischen Perspektive zu erfassen. Dies bedeutet, soziale Institutionen nicht als Ausfluss von Interessen, Macht oder auch anthropologischen Grundkonstanten des menschlichen Wesens zu begreifen, sondern als Formung kom­munikativer Operationen, in denen Sinn so konditioniert wird, dass kommunikative Anschlüsse wahrscheinlich und erwartbar werden. Kommunikation meint dann nicht die bloße Übertragung von Informationen, sondern dass Alter und Ego die Mitteilun­gen der jeweils anderen Seite als Information beobachten – als Daten, die einen Unter­schied machen – und diese in die jeweils eigenen Sinnhorizonte einbauen. Dieses Ver­stehen wird dann möglicherweise wiederum Grundlage einer Mitteilung. Das Beson­dere dieses Verständnisses von Kommunikation ist, dass es die wechselseitige Zugänglichkeit des Bewusstseins nicht voraussetzt, sondern gerade die Nichtzugäng­lichkeit zum Ausgangspunkt für ein Konzept des Sozialen macht, das in Operationen reproduziert wird, die auf Hervorbringung und Formung von Sinn beruhen. Entspre­chend wichtig wurde der Begriff der Medien. Kommunikation vollzieht sich in Medien, indem die sie konstituierenden Elemente selektiv aus loser in strikte Koppe­lung überführt werden.

Für die Formung und Codierung von Kommunikation stehen zwei wichtige In­strumente zur Verfügung, die der Sonderforschungsbereich ins Zentrum seiner ge­meinsamen Arbeit rückte: Normen und Symbole. Normen entkoppeln Erwartungen von der kommunika­tiven Reaktion auf die eigene Mitteilung. Man hält an Normen auch dann fest, wenn die Erwartung enttäuscht wird, aber mit Normen wird meist auch bereits eine Selbst­bindung definiert. Es ist dann festgelegt, welche Reaktionen bei­spielsweise auf Erwartungsenttäuschungen zu erfolgen haben. Während Normen auf die Selektivität kommunikativer Operationen zielen, sind Symbole auf Semiosen und Bedeutungskon­stitution orientiert. Wir haben Symbole von Zeichen unterschieden, die als Referenten auf anderes hinweisen. Symbole hingegen verbinden Beobachtungen und Informatio­nen, indem sie das Signifikat appräsentieren.

Dieses kommunikationstheoretische Konzept des Sozialen führt zu Verschiebun­gen bei einer Reihe von weiteren Begriffen. Während konventionelle Sozialtheorien Integration häufig über Konsens und Anpassung oder Übereinstimmung definieren, setzt ein kommunikationstheoretisches Konzept gerade bei der Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnungsbildung an. Soziale Ordnungsmuster erscheinen dann als selektive Verknüpfung von (Sinn-)Elementen und die Frage im Hinblick auf größere Sozial­zusammenhänge oder Gesellschaften ist dann, wie viel „Verschiedenheit“ dauerhaft und mit hoher Wahrscheinlichkeit anschlussfähig gehalten werden kann. Der Begriff der Desintegration stand deswegen seit der zweiten Förderphase gleichberechtigt neben dem der Integration. Auch bei einer Reihe von weiteren sozialtheoretischen Grundbegriffen gibt es Verschiebungen. Ontologien wurden durch Kontingenzmodelle verflüssigt, Kausalitätskalküle durch Komplexitätsannahmen relativiert und Anfänge durch Emergenzmodelle in ihrer Zirkularität erfasst.

Der Verbund hat sich in seiner ersten Förderperiode darauf konzentriert, dieses Konzept zu verfeinern und es so auszuarbeiten, dass es für die unterschiedlichen Theo­rietraditionen in den verschiedenen kulturwissenschaftlichen Fächern, die am Verbund beteiligt sind, anschlussfähig wurde. Die zweite Förderperiode war im Schwerpunkt dem Aufbau und der Stabilisierung sozialer Ordnungsmuster gewidmet. In der dritten und letzten Förderperiode wurden die Teilprojekte und die gemeinsame Arbeit im Gesamtverbund auf die Transformation sozialer Ordnungsmuster ausgerichtet. Damit war auch eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs verbunden. Während in der zweiten Förderperiode strukturelle Zusammenhänge und ihre operative Reproduktion im Vordergrund standen, rückten in der dritten Arbeitsphase auch Diskurse stärker in den Fokus unserer Forschung, weil Stabilität wie Transformation von sozialen Ord­nungsmustern auch als Resultat von Beobachtungen und Beschreibungen verstanden werden müssen. Damit wurden neue poststrukturalistische Begriffsinstrumentarien wichtiger für die Arbeit und die Diskussion im Sonderforschungsbereich. Differenz­theoretische Konzepte der Sinnbildung traten in den Vordergrund und damit auch die zirkuläre, paradoxale Ausgangsbedingung aller sozialen Ordnungsmuster und Institu­tionen. Wenn soziale Integration von der Kontingenz kommunikativer Ordnung her gedacht wird, treten normative und wertorientierte Aspekte sowie die Frage nach Kon­sens und Übereinstimmung in den Hintergrund. Vielmehr wird für das Verständnis sozialer Integration die Einsicht zentral, dass aufgrund des fragilen Charakters sozialer Strukturbildung diese ihre eigene Dynamisierung und Veränderung (und das heißt: ihre Desintegration) bereits in sich trägt. Integration und Desintegration erscheinen damit nicht als Gegensatz, sondern als aufeinander bezogene konstitutive Aspekte gesellschaftlicher Ordnungsbildung. Insofern ist die Frage nach sozialer Stabilität vor­nehmlich auf die Fähigkeit sozialer Gefüge auszurichten, die selbst erzeugten Span­nungen, Paradoxien und Konflikte als Chance der Problemdiagnose und der lernenden Anpassung produktiv zu nutzen.

Im letzten Forschungsantrag wurden entsprechend drei hauptsächliche Arbeits­felder ausgewiesen. Wir hatten uns vorgenommen, die Typen struktureller Transfor­mation (1) in sozialen Ordnungsmustern genauer zu analysieren; ein zweites Arbeits­feld sollten Normierungs- und Symbolisierungsprozesse insbesondere in der Verände­rung sozialer Ordnungsmuster sein (2); und drittens sollte das Verhältnis von Diskur­sen, Strukturen und Beobachtungsverhältnissen untersucht werden (3).

(1) Typen struktureller Transformation

Im letzten Fortsetzungsantrag wurden wesentlich zwei Formen struktureller Transfor­mation unterschieden: die lernende Anpassung an Umweltveränderungen und Struk­turzusammenbrüche, die auf Überforderung von Gesellschaften und Systemen zurück­gehen, oder bewusst verweigerte Anpassung.

Die Forschungen in den Teilprojekten haben eine sehr viel größere Vielfalt von Typen und Verläufen struktureller Transformationen in den Ordnungsmustern vergan­gener und gegenwärtiger Gesellschaften zu Tage gefördert. Versucht man sie nach Intensitätsgraden zu sortieren, so steht am oberen Ende der Skala die bewusste und gestaltete Reaktion auf Veränderungen in der externen und internen systemischen Umwelt. So muss die spätmittelalterliche Klosterreform verstanden werden als eine Reaktion der Orden auf Veränderungen in der verwandtschaftlichen Differenzierung der Adelsgesellschaft (Teilprojekt C12). Die Transformation der politischen Kultur der frühneu­zeitlichen Stadt wurde wesentlich durch die gesellschaftliche Adaption von Schrift und Drucktechnik ausgelöst (B4). Am anderen Ende der Skala kann man ver­weigerte Transformationen identifizieren. Die sowjetische Literatur adaptierte die Ide­ale einer sozialistischen Gesellschaft nur sehr unvollkommen und reagierte subversiv (A10, A11). Auch die politischen Institutionen der frühneuzeitlichen Stadt wiesen eine große Trägheit auf (B4). Dies zeigt schon, dass strukturelle Transformationen sich in der Regel als fragile Prozesse darstellen, die sich im Zickzack und häufig kumulativ voll­ziehen, wie dies für das Rechtssystem des hethitischen Staates herausgearbeitet wurde (B9). Besonders der Übergang von der Republik zum Prinzipat im römischen Impe­rium verdeutlicht die prinzipiellen Schwierigkeiten der Evolution neuer, in die­sem Fall: politischer Institutionen (B10). Evolution in sozialen Ordnungszusammen­hängen geht langsam vor sich, nicht so sehr im Stadium der Selektion von Innovatio­nen, son­dern in der Phase ihrer Restabilisierung, weil dann die Anschlüsse an eine ebenfalls strukturierte Umwelt hergestellt und auf Dauer gestellt werden müssen. Da­ran scheint sich grundsätzlich zwischen Antike und Moderne nichts geändert zu haben, weil der Aufbau in Interventionsregimen in der globalisierten Welt von den gleichen Schwie­rigkeiten geprägt ist (B12). Die verschleierten Transformationen, wie sie in einer Untersuchung zur Veränderung frühkindlicher Sozialisationspraxis im 20. Jahr­hundert herausgearbeitet wurden (A9), sind deswegen möglicherweise gelegentlich effizienter als die offen betriebene Umgestaltung.

Ausgelöst werden Transformationsprozesse sozialer Ordnung auf ganz unter­schiedliche Weise. Die spektakulärste und greifbarste Variante ist das katastrophische Ereignis, etwa eines 11. September, der die Welt eine andere werden ließ (A5). Aber in solchen Fällen besteht die Gefahr, dass Sinnfigurationen überstrapaziert werden, so dass Reaktionen und Anschlüsse durch das Empfinden von Sinnlosigkeit blockiert werden. Hinzu kommt, dass selbst in modernen Gesellschaften Ereignisse krisenhafter Art einen Schwellenwert medialer Präsenz und Aufmerksamkeit überschreiten müs­sen, um in anderen Systemen Reaktionen hervorzurufen. Auch das zeigt die Geschichte der gegenwärtigen globalisierten Krisenintervention (B12). Interventionen hängen stark an der Initiative von engagierten „politischen Unternehmern“. Im „Nor­malfall“ werden strukturelle Veränderungen durch diskursive Verschiebungen ausge­löst oder durch Prozesse in anderen Bereichen und auf anderen Ebenen sozialer Ord­nungsbildung. So ist die serielle Produktion von Individualität durch Styling des Kör­pers in den gegenwärtigen westeuropäischen Gesellschaften als eine Verarbeitung sowohl von Veränderungen im medialen Set wie auch der sozialstrukturellen Diffe­renzierungsmuster zu verstehen (C3). Auch kulturelle Adaption, wie sie aus engem Kulturkontakt (C2) oder imperialer Überformung (B6) heraus entsteht, entfaltet trans­formative Kräfte. Entscheidend sind mithin mediale und strukturelle Konstellationen. Für die westeuropäischen Gesellschaften wurde betont, dass hier die Kontingenz sozi­aler Ordnung seit dem 17. Jahrhundert selbst zum Thema von Selbstbeschreibungen wurde (A12). Ein Projekt zur Krise des 17. Jahrhunderts konnte herausarbeiten, dass in diesem Zusammenhang der Krisenbegriff in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung prominent wurde. Er ermöglichte es der Gesellschaft, sich selbst zum Gegenstand dauerhaften und fortgesetzten Umgestaltens zu machen (A6).

Blickt man auf die kommunikativen Muster, mit denen Prozesse struktureller Transformation gestaltet werden, so erweist sich der direkte normierende Eingriff häu­fig als wenig erfolgreich. Er provoziert Widerstand, Subversion und Verweigerung (B6, B10, B13, C12). Auch die gewaltsam vorgetragene und geplante Intervention ruft Abwehrreaktionen hervor (B12). Erfolgreicher scheinen langfristige, „schleichende“ Umgestaltungen (B4) oder der vorsichtige, adaptive und selektive Import von externen institutionellen Modellen (B12). Erfolgreich scheint auch das lernfähige Neuarrange­ment vorhandener Institutionen und Strukturmuster (B10). Umgekehrt können offen­sichtlich angelaufene Transformationsprozesse selten aufgehalten werden. Selbst reli­giöse und politische Charismatiker des Spätmittelalters stemmten sich ihnen nur mit mäßigem Erfolg entgegen (C9).

In allen drei Perspektiven unterscheiden sich moderne Gesellschaften von vormo­dernen nach den Befunden des Sonderforschungsbereichs grundsätzlich. Während moderne Gesellschaften strukturell und diskursiv nicht nur auf Veränderungen einge­stellt sind, sondern dies auch noch als ihr Konstituens in ihre Selbstbeschreibungen aufgenommen haben, sind Transformationen in der Vormoderne von überwiegend katastrophischem Charakter. Dabei ist die Zäsur dazwischen nur bedingt auf die gän­gigen Epochengliederungen der Historiker abzubilden. Entscheidend scheinen Umbrü­che im medialen Setting von Gesellschaften zu sein, weil sich damit die Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und der Selbstbeschreibung nachhaltig verändern.

(2) Prozesse der Normierung und Symbolisierung

Auch die von den Teilprojekten untersuchten Prozesse der Normierung und Symboli­sierung stellten sich in einem breiteren Spektrum von Varianten dar, als im Antrag vermutet. Normierung geschieht nicht nur durch Setzung, sie ist schon im Hethitischen Reich als vertragsförmige gegenseitige Bindung (B9) greifbar. In allen historischen und gegenwärtigen Gesellschaften ist das Recht der bevorzugte Ort der normativen Ordnung sozialer Verhältnisse (B4, B15), wobei nicht nur soziale Integration, sondern häufig auch Desintegration und Exklusion das Ziel sein kann, wie der Umgang mit Flüchtlingen und Juden im europäischen 19. und 20. Jahrhundert zeigt (B6). Auch im Recht haben Normierungsprozesse häufig additiven Charakter, schichten sich Norm­setzungen aufeinander (B9, B4), gewinnen dadurch häufig an Flexibilität und Anschlussfähigkeit. Diskursive, nicht verrechtlichte Normierungen, wie sie beispiels­weise in der frühkindlichen Sozialisation (A9) oder in der Ausgestaltung des „volunta­ristischen Individualismus“ (C3) durch massenmedial vermittelte Körpertechniken untersucht wurden, sind keineswegs weniger wirksam als normative, verrechtlichte Setzungen. Sie scheinen zum Teil sogar eine größere zeitliche Stabilität aufzuweisen als gesatzte Normen. Die dominierende Erscheinungsform der Normen ist seit den Hochkulturen der Text. Auch Symbolisierungen können in Texten produziert oder reflektiert werden, aber die Ergebnisse der Teilprojekte machen deutlich, dass dafür die Nutzung von Schrift, Druck und noch moderneren Massen- und Verbreitungsme­dien eine Voraussetzung ist. Bis dahin ist die symbolische Codierung sozialen Sinns und die Appräsentation von Ordnungsmustern auf den performativen Vollzug oder auf Bildlichkeit angewiesen. Das römische Prinzipat zeigt dies ebenso (B10) wie die spätmittelalterlichen Versuche, Ordnungszusammenhänge durch religiöse Charismati­ker zu stabilisieren (C9). In den politischen Kulturen der Neuzeit werden Symbolisie­rungen zum Teil bewusst eingesetzt, um Normierungen performativ hervorzubringen und sie in der Gesellschaft zu verankern (B13, A6). Schrift tritt dann häufig hinzu, um der Performanz Dauer zu verleihen und sie translokal wahrnehmbar zu machen.

Damit korrespondiert, dass noch in der postsowjetischen Gesellschaft soziales Ver­trauen auf Verwandte und die nähere Umgebung einer Hausgemeinschaft kon­zentriert ist, während in Westeuropa bei grundsätzlich höheren Integrationsschwellen auch die sozial ferneren Fremden von Vertrauensverhältnissen nicht ausgeschlossen sind. Es verwundert bei derartigen Befunden nicht, dass sich auch Generationenver­hältnisse nicht nur als soziale Strukturmuster erweisen; sie können nicht zuletzt zur Sym­bolisierung von Strukturen und der Beziehung der Elemente in ihnen werden (A9, C10).

Prozesse der Normierung und der Symbolisierung sind grundsätzlich gekenn­zeichnet durch die Volatilität und Uneindeutigkeit des Sinns. Schon im Antrag wurde eine solche „Unschärferelation“ des Sinns, durch die Anschlussfähigkeit gesichert und die Plastizität sozialer Ordnungsmuster möglich wird, vorausgesetzt. In den Teilpro­jekten konnte dies nicht nur bestätigt, sondern durch die Untersuchung von Prozessen der Semiose im Detail nachvollzogen werden. Die Differenzsetzung, das Ziehen einer Grenze, hält das Ausgeschlossene und die negative Seite einer Unterscheidung prä­sent, auch wenn sie bewusst zum Verschwinden gebracht werden sollen (A5, A12). Deswegen emergieren soziale Ordnungsmuster aus zirkulären und paradoxalen Anfängen, was selbst noch in der Verbindung von Freiheit und normativer Bindung (B11) zu greifen ist. Dies führt dann dazu, dass auch in stabilen sozialen Ordnungs­mustern breite Zonen der Unentscheidbarkeit auszumachen sind, die man nicht nur in Diskursen verifizieren kann (A5, A12), sondern auch in der „normativen Fluidität“ des römischen Prinzipats (B10). Der Körper scheint dabei gelegentlich mehr Halt und Eindeutigkeit zu bieten als die Schrift. Texten ist die Mehrdeutigkeit inhärent, die noch einmal potenziert wird, wenn Texte sich auf Texte beziehen (A11). Kultur kann entsprechend als der Raum identifiziert werden, in dem für systemreproduzierende Operationen jene Mehrdeutigkeit und Unentschiedenheit verfügbar gemacht wird, die operative Anschlüsse in Systemen sicherstellt und den „kommunikativen Verkehr“ zwischen den Funktionssystemen ermöglicht (A12). Dabei gibt es allerdings Anhalts­punkte, dass auch diese Produktion des Mehrdeutigen und der Zonen des Unentschie­denen wie auch die der Strukturen nicht in jeder Hinsicht beliebig verlaufen, sondern von generativen Grammatiken gesteuert werden, die sich wiederum nach kulturellen Räumen unterscheiden. Das legen jedenfalls die Ergebnisse der Teilprojekte nahe, die sich mit osteuropäischen Gesellschaften befassten (A10, A11, C2).

Schließlich machte die Untersuchung von Prozessen der Semiose auch die Bedeutung der Figur und der Narration deutlich. Beides hängt miteinander zusammen. Die Figur ist eine „Verkörperung“ sozialer Strukturen, weil sie ihnen eine „Gestalt“ gibt, die nicht in jedem Fall eine soziale Person sein muss, sondern auch das anthro­pomorphisierte Tier sein kann (A12). Die Figur ist stets aber auch lebendig und plas­tisch, weil sie nicht nur beschrieben wird, sondern eine Geschichte bekommt. Die reli­giösen Charismatiker des Spätmittelalters (C9), deren Charisma in den heiligen Viten expliziert wurde, unterscheiden sich in dieser Hinsicht kaum von der typologischen Konstruktion moderner Filmfiguren (C11). Der Forschungsverbund hat dieses Ergeb­nis der gemeinsamen Arbeit aufgegriffen und „Prekäre Figuren“ in ihrer Bedeutung für strukturelle Transformationen zum Thema der Abschlusstagung gemacht. Der Be­griff „prekäre Figur“ oszilliert zwischen zwei Referenzen: Zum einen zielt er auf Per­sonen und Personengruppen, zum anderen auf diskursive Figurationen. Mit „prekär“ wird ein Zwischenzustand beschrieben, der eine Art Niemandsland zwischen Zugehö­rigkeit und Ausschluss, Inklusion und Exklusion bildet, und zwar im Sinne von Robert Castels „Zone der Verwundbarkeit“ und der „Entkopplung“ aus sozialen Bindungen – eine Zone, die durch ihre „prekäre Unentschiedenheit“ (Heinz Bude) und durch eine Situation des Weder-Noch gekennzeichnet ist und die insofern einen paradoxen gesell­schaftlichen Ort der Ort- und Orientierungslosigkeit markiert. Prekäre Positionalität bezeichnet eine soziale Existenz, für die der Zufall, nicht zuletzt der biographische Zufall, eine besondere Rolle spielt, in der das Kontingente und Fragile sozialer Ord­nungen unmittelbar erfahrbar werden und sich entsprechend Ausdruck verschaffen.

(3) Diskurse, Strukturen und Beobachtungsverhältnisse

Diskurse spielten in den Forschungen der Teilprojekte in zweierlei Form eine Rolle: Es handelte sich entweder um Selbstbeschreibungen oder diskursiv verdichtete Selbst­beobachtungen von Handlungszusammenhängen und Gesellschaften oder aber zwei­tens um Wissensbestände allgemeiner Art, die in Gesellschaften akkumuliert und weitergegeben werden.

Das mediale Dispositiv lässt sich ebenfalls differenzieren. Sobald Schriftlichkeit und Druck in Gesellschaften verfügbar sind, spielen Literaturen (einschließlich ihrer medialen Derivate; A10, A11, A12, C10, C11) eine wichtige Rolle. Wenn Literatur sich dann als eigenständiges Sozialsystem etabliert hat, werden Verfahren und ästheti­sche Programme wichtig, die den „Realitätsgehalt“ fiktionaler Texte authentifizieren, um literarische Texte weiterhin als Beitrag zum gesellschaftlichen Identitätsdiskurs werten zu können. Der nachrevolutionäre russische Dokumentarismus stellt einen sol­chen Versuch dar. Ein zweites mediales Dispositiv wird in Öffentlichkeiten greifbar. Seit der raschen Akzeptanz der Drucktechnik in den westeuropäischen Gesellschaften der Neuzeit sind Massenmedien der institutionelle Kern dieses Dispositivs, das dann gesellschaftliche und systemische Selbstbeobachtung tragen wird (A6). In der Vormo­derne nehmen Öffentlichkeiten andere Formen an. Kommunikation unter Anwesenden bringt es mit sich, dass Beobachtung nur unvollkommen gegenüber systemischen Ope­rationen ausdifferenziert werden kann. Man kann von „integrierten Öffentlichkeiten“ sprechen, in denen Beobachten von Politik beispielsweise immer auch schon (oder noch) politisches Handeln darstellt (B4). Integrierte Öffentlichkeiten sind deswegen performativ. Sie erscheinen als Auflauf, Zusammenrottung, sie werden inszeniert als Supplikation und als ritualisierte Übergabe von Forderungskatalogen (B4, C12). Diese performative Dimension sozialer Symbolisierung ist vermutlich einer der Gründe, wa­rum der Körper von den frühen Hochkulturen bis in die moderne Gegenwart zu einem bevorzugten Medium der Symbolisierung des Sozialen und seiner Ordnung geworden ist. Mit dem Konzept der „Vergesellschaftung unter Anwesenden“ vor der Integration von Gesellschaften durch Schrift und Drucktechnik ist dafür in einem der Teilprojekte ein theoretisches Modell entwickelt worden (B4). Als ein drittes Disposi­tiv, mit dem im Antrag nicht gerechnet wurde, erschien deswegen in der Arbeit der Teilprojekte der Körper und die mit ihm verbundenen Praktiken. Der Körper wurde nicht nur als Me­dium der Symbolisierung gesellschaftlicher Ordnungsfigurationen genutzt, sondern konnte auch als Beobachtungs- und Reflexionsinstanz der Gesamt­gesellschaft (A12) oder ihrer Teilsysteme begriffen werden. Dies gilt insbesondere für mit dem Körper verbundene Praktiken wie etwa Reinigungspraktiken (C2), aber auch Praktiken der Körperformung des „voluntaristischen Individuums“ (C3) in den Gegenwartsgesell­schaften. Umgekehrt schreibt das Soziale sich dem Körper immer auch direkt ein, sei es durch Exklusion, die sich am Körper festmacht (B6), oder auch durch Grenzziehun­gen, die sich über Körperkontakte und deren Vermeidung mani­festieren, und im Um­gang mit den Ausscheidungen des eigenen oder anderer Körper (C2). In der Literatur Sowjetrusslands werden der Körper und seine Sprach- und Perfor­manzfähigkeit expli­zit in Stellung gegen die Schrift und den Logos gebracht (A11) und noch in der Ge­genwart zeichnen sich osteuropäische Gesellschaften durch eine stärkere Körperorien­tierung aus als die westeuropäischen (C2). Im Diskurs über AIDS artikulieren sich negative Imaginationen oder Imaginationen der Auflösung des Sozi­alen (A5).

Das Verhältnis von Diskursen der Selbstbeobachtung und der Wissensbestände zu operativ reproduzierten Struktur- und Ordnungsmustern wurde ebenfalls in ganz unter­schiedlichen Konstellationen erforscht. Die auch im Antrag bereits erwartete Variante war die Stabilisierung. Sie erwies sich aber dann als erfolglos, wenn sie verordnet wurde, wie im Fall des sozialistischen Realismus (A10) oder auch der Öffentlichkeits­politik faschistischer Regime (B13). Das mag damit zusammenhängen, dass soziale Systembildung sich aus der paradoxalen Entfaltung zirkulärer Anfänge heraus stabili­sieren muss, um erfolgreich und dynamisch zu sein. Anfänge zu imaginieren ist jeden­falls eine weitere wichtige Funktion von system- oder gesellschaftsbezogenen Be­obachtungsdiskursen. Diese Anfänge müssen so imaginiert werden, dass sie nicht aus Elementen des Systems bestehen, gleichwohl aber im System anschlussfähig sind (A12). Katastrophische „Nullstunden“ wie 9/11 können, auch wenn sie zunächst „Sinnlosigkeit“ vermitteln, gerade weil sie die Kontingenz des Sozialen zur Anschau­ung bringen, eine ähnliche Begründungsfunktion für Ordnung übernehmen (A5). Erfolgreicher als die „verordnete“ Stabilisierung von Ordnungszusammenhängen ist offenbar die interessierte Beobachtung, die das „Tatsächliche“ festhält und damit Fakten schafft. Das lässt sich bei spätmittelalterlichen Berichten über die Visitation von Klöstern ebenso festhalten (C12) wie im Prozess der Verstaatlichung von Herr­schaft, die zu konzentrierter Macht auch mit Hilfe von Beschreibungen wird (B4), wie auch an der semantischen Emergenz des „Flüchtlings“ in den europäischen Gesell­schaften seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert (B6). Ein ähnlicher Zusammenhang ergibt sich bei internationalen Interventionen in Konflikt- und Krisenregionen. Sie sind von einer bestimmten Intensität und Art der medialen Thematisierung abhängig (B12). Weder ein interessierter Bias noch kritische Distanz scheinen diese produktive Wirkung von Diskursen der Selbstbeobachtung zu beeinträchtigen. Auch im Fall des römischen Prinzipats gewinnt man den Eindruck, dass die institutionelle Emergenz der Monarchie durch einen (antimonarchischen) republikanischen Diskurs wenn nicht überhaupt erst möglich, so doch wesentlich gestützt wurde (B10). Insofern lassen sich die Wirkungen von Kritik an normativen Setzungen (B11) nur schwer prognostizieren (C12) und auch der „entordnende“ Diskurs (A5) hat, wenn er diskursive und operative Anschlüsse findet, strukturbildende Wirkung. Die Ergebnisse der Teilprojekte stützen die Hypothese, dass visuelle Medien hier funktionaler sind, weil sie Uneindeutigkeiten besser vermitteln als lineare Texte. Generell bestimmen Modalitäten gesellschaftlicher Selbstbeschreibung die Handlungsmöglichkeiten in sozialen Systemen und Gesell­schaften. Das wurde in den Forschungen zur langsamen Adaption des Krisenbegriffs in der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung seit dem 17. Jahrhundert deutlich, der Gesellschaft auf fortgesetzte Veränderung und politisches Handeln auf Dauerinterven­tion einstellte und gleichzeitig die Vermittlung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch ein transitorisches Zeitverstehen so wandelte, dass aus dem Nacheinan­der von Ereignissen kausale Verknüpfungen wurden (A6).

(4) Methode und Gesamtentwicklung

Der Sonderforschungsbereich wurde von Anfang an durch die Grundsatzentscheidung be­stimmt, nicht eine bestimmte thematische oder epochale Engführung vorzunehmen, sondern der gemein­samen Arbeit ein konturiertes, aber bewegliches und entwicklungs­fähiges theoreti­sches Konzept des Sozialen zugrunde zu legen. Das hat sich bewährt. Dieses Konzept wirkte als methodische Matrix, die eine füreinander anschlussfä­hige, vergleich­bare Sicht auf ein breites Spektrum von unterschiedlichen Forschungs­gegen­ständen über Disziplinen und Epochengrenzen hinweg ermöglichte. Die ver­gleichs­weise abstrakte Begrifflichkeit des Verbundes bildete dabei eine wichtige Vorausset­zung dafür, dass Befunde über große Zeiträume hinweg aufeinander bezogen werden konn­ten, ohne die Gegenstände zu enthistorisieren. Das Konzept war gerade umge­kehrt durch die Betonung des Medienaspektes auf eine genaue historische Ver­ortung der Forschungsgegenstände in den Teilprojekten gerichtet. Die gemeinsame Diskus­sion im Verbund war deswegen zu jedem Zeitpunkt von einer gehaltvollen Em­pirie getragen. Diese thematische Vielfalt des Sonderforschungsbereichs hat seine Ent­wicklung begünstigt und auch dynamisierend auf das theoretische Konzept zurück­gewirkt. Stan­den am Anfang Kommunikation, Normen, Symbole und Integration im Zentrum, so wurden im Verlauf der gemeinsamen Forschung auch Rituale, Perfor­manzen, Figuren und Narrative wichtig. Insofern ist die wissenschaftliche Entwick­lung dieses Sonder­forschungsbereichs nicht durch Engführung gekennzeichnet, son­dern durch methodi­sche Dynamik und thematische Diversifizierung.

 

2       Entwicklung der Kooperation im Sonderforschungsbereich und Außenwirkung des Sonderforschungsbereichs

In seiner wissenschaftlichen Struktur ist der Sonderforschungsbereich von Anfang an durch ein breites Spektrum der beteiligten Geistes- und Sozialwissenschaften und durch eine ebenfalls breite historische Spreizung vom Alten Orient bis zur Zeitge­schichte gekennzeichnet. Die interne Vernetzung und der interne wissenschaftliche Austausch erfolgten neben der gezielten Kooperation zwischen einzelnen Teilprojek­ten durch ein zentrales plenares, zunächst 14-tägiges Kolloquium, zu dem neben Refe­renten aus den Teilprojekten regelmäßig auswärtige Gäste eingeladen wurden und das seit 2006 zusammen mit dem Exzellencluster EXC 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ durchgeführt wurde. Die Referate liegen in einer grauen Reihe („Diskus­sionsbeiträge“) gedruckt vor.

Zentrale größere Tagungen hat der Sonderforschungsbereich im Verlauf der drei Bewilligungsab­schnitte viermal veranstaltet, in der letzten Förderphase die Pro­grammtagung „Imagination und Illusion. Verschleierungen und Verblendungen in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften“ (04./05.05.2006) und die Abschluss­tagung „Prekäre Figu­ren – Politische Umbrüche“ (26.-28.11.2009). Zudem wurden kleinere Workshops organisiert, die dem Austausch zwischen dem Sonderforschungs­bereich und anderen Forschungsverbünden (unter anderem dem EXC 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“) dienten, so etwa vom 2.-3. Juli 2008 der Workshop „Ausschließung – Grenzüberschreitung – Assimilation. Figuren und Grenzen der In­klusion und Integration“, der gemeinsam vom SFB 485, dem EXC 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ und dem Trierer SFB 600 „Fremdheit und Armut. Wan­del von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegen­wart“ veran­staltet wurde.

Wesentlich für die Intensivierung der internen Zusammenarbeit im Sonderfor­schungsbereich waren dabei zwei Formen des projektübergreifenden Austausches:

(1) Arbeitsgruppen: Nachdem sich diese Form des internen Austausches bereits in den ersten beiden Bewilligungsphasen bewährt hatte, haben sich in der letzten Bewil­ligungsphase insgesamt drei Arbeitsgruppen formiert: „Transformation von Identi­tät(stheorien)“, „Legitimationsstrategien“ und „Kulturen der Selbstbeobachtung in/ von/ nach gesellschaftlichen Umbrüchen und Wandlungsprozessen“. In ihnen haben die Mitar­beiterinnen und Mitarbeiter des Sonderforschungsbereichs über unterschied­liche, für das gemeinsame Forschungspro­gramm zentrale Thematiken diskutiert und ihre Forschungen präsentiert; die Arbeitsgruppen haben dabei auch Workshops unter Einbeziehung auswärtiger Gäste veranstaltetet. Die Ergebnisse der Diskussionen in den Arbeitsgruppen dienten dabei auch als Grundlage für den Klausurworkshop des Sonderforschungsbereichs 2008. Sie sind zudem dokumen­tiert in drei Heften der „Diskussionsbeiträge“ (Nr. 82-84).

(2) Klausurworkshops: In der letzten Bewilligungsphase wurden zwei zwei­tägige interne, für alle Mitglieder des Forschungskollegs verpflichtende Workshops veran­staltet (26./27.01.2007, 18./19.04.2008), auf denen zum einen die Teilprojekte ihre Forschungsvorhaben und zum anderen die Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse zur Diskus­sion gestellt haben.

Insgesamt haben sich diese kleineren, flexibleren Formate für die wissenschaftli­che Integration eines Forschungsverbundes als überaus produktiv erwiesen. Auf diese Weise ist es dem Sonderforschungsbereich über die Jahre gelungen, ein intensives und dichtes Milieu des wissenschaftlichen Austausches zwischen den verschiedenen Fach­kulturen aufzubauen. Wesentliche Voraussetzung dafür war auch die unhierarchische, wechsel­seitige kollegiale Wertschätzung der am Sonderforschungsbereich beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in der intensiven Zusammenarbeit zwi­schen Mitarbeitern und Teilprojektleitern zum Aus­druck kam. Die Belastbarkeit dieses gewachsenen Milieus wissenschaftlicher Koope­ration zeigte sich dann in der erfolg­reichen Beantragung eines Exzellenzclusters schon in der ersten Ausschreibungsrunde, das im Thema die Grundidee und Ergebnisse des Sonderforschungsbereichs aufgriff und dann in seiner Einrichtung auch von der Ko­operationserfahrung der am Sonder­forschungsbereich bereits beteiligten Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler profi­tierte. Beide Verbünde fanden dann auch schnell zu gemeinsamen Ver­anstaltungen (Kolloquium) und zu projektübergreifenden Kooperationen, so dass der Sonderfor­schungsbereich zu einer wesentlichen Stütze in der Implementierungsphase des Clus­ters wurde.

Die wissenschaftliche Arbeit und Kooperation im Sonderforschungsbereich wurde über den Gesamtzeitraum hinweg wesentlich auch durch das Engagement des wissen­schaftlichen Nachwuchses getragen. Der Sonderforschungsbereich hat deswegen alle Initiativen des Nach­wuchses auf Gründung von Arbeitsgruppen, eigene Workshops und Tagungen stets unterstützt und finanziell gefördert.

Eine besondere Maßnahme zur Förderung des Nachwuchses war die seit zehn Jah­ren auf Initiative von Bernhard Giesen hin durchgeführte Konstanzer Meisterklasse. In einer zehntägigen Veranstaltung erhalten Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nach­wuchswissenschaftler, die aus einem internationalen Bewerberkreis ausgewählt wer­den, Gelegenheit, ihre Forschungen vor international renommierten Gastwissen­schaftlern zu präsentieren und sie mit ihnen zu diskutieren.

Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Sonderforschungsbereich war insgesamt nicht ausschließlich auf wissenschaftliche Karrieren gerichtet. Eine Umfrage bei den Teil­projekten aus Anlass des Berichts ergab, dass in 11 von 21 do­kumentierten Fällen (52 Prozent) ein außerwissenschaftlicher Berufseinstieg möglich wurde. In den anderen Fällen schließt oder schloss sich an die Tätigkeit im Sonderfor­schungsbereich eine weitere Betätigung in der Wissenschaft an.

Als sehr wichtig für die interne Organisation des Sonderforschungsbereichs erwies sich die Tätigkeit eines engagierten Wissenschaftlichen Koordinators und die Beset­zung der Verwaltungsstelle durch gut ausgebildete und engagierte Verwaltungsange­stellte. Gerade an dieser Stelle wirkte die Tarifstruktur des öffentlichen Dienstes dau­erhaft als latentes Hindernis. Der Wissenschaftliche Koordinator unterstützte den Sprecher und den Vorstand nachhaltig bei der konzeptionellen und institutionellen Weiterentwicklung des Sonderforschungsbereichs und rief eine ganze Reihe von Initiativen für Arbeitsgruppen, Kooperationen, Workshops und interne Tagungen ins Leben, so dass in seiner erfolgreichen Arbeit ein wesentlicher Grund für die Verdich­tung der internen wissenschaftlichen Kooperationen liegt. Wichtig war dabei, dass die Koordinatoren jeweils auch forschend in die Arbeit des Verbundes eingebunden wa­ren.

Dies verweist darauf, dass sich auch in Sonderforschungsbereichen wissenschaft­liche Kooperation nicht von allein und automatisch ergibt. Sie muss organisiert wer­den, und dabei ist das wichtigste Erfordernis neben dem Angebot von vielseitig an­schlussfähigen thematischen Kernen die Rücksicht auf die Begrenztheit des Zeit­bud­gets der einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Bezieht man die Erfah­rungen des Exzellenz­clusters mit ein, so lässt sich vielleicht Folgendes formulieren: Kulturwissenschaftli­ches Forschen im Verbund kann nicht dem Modell arbeitsteiliger Kooperation folgen. Vielmehr ist an Netzwerke zu denken, in denen die einzelnen Teilnehmer füreinander nicht in erster Linie als Lieferanten von Wissen (gelegentlich auch von methodischen Kompetenzen) interessant sind, sondern weil von ihnen Irrita­tionen ausgehen, die die eigene Arbeit voranbringen. Sonderforschungsbereiche in den Kulturwissenschaftli­chen Fächern sind in erster Linie „Irritationszusammenhänge“. Deswegen müssen die Kooperationsformen auch umso flexibler und möglicherweise unverbindlicher werden, je größer solche Verbünde werden. Eine wichtige Rahmenbe­dingung ist dann aber die Professionalisierung von Leitungsstrukturen, die im Sonder­forschungsbereich unter anderem in der Organi­sation des Zentralen Bereichs zum Ausdruck kam sowie darin, dass das Amt des (gewählten) Sprechers nicht rotierte, sondern über zehn Jahre hinweg bei einer Person lag.

Die Dichte der externen Kooperationen schlägt sich in einer Vielzahl von erfolg­reichen Einladungen in- und ausländischer Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissen­schaftler nieder und in der in­ternationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit der einzelnen Teilprojekte. Der Sonderforschungsbereich profitierte dabei von der Infra­struktur des „Netzwerkes transatlantische Kooperation“, das von Albrecht Koschorke aus Universitäts- und Landesmitteln aufgebaut wurde, um die Einladung und Betreu­ung ausländischer Gastwissenschaftler insbesondere aus Nordamerika organisatorisch zu unterstützen. Die Teilprojekte haben die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit regelmäßig auf der Plattform internationaler Tagungen präsentiert. Im nationalen Rahmen entwickelte sich der wissenschaftliche Austausch besonders fruchtbar mit den Sonderforschungs­bereichen in Dresden, Münster, Trier und auch Tübingen, die eine ähnliche Fragestel­lung verfolgten und mit denen sich vielfältige Austauschmöglich­keiten ergaben. Mit dem Sonderforschungsbereich in Trier wurde ein gemeinsamer Workshop zu Proble­men von Assimilation und Integration realisiert und eine gemein­same Sektion auf dem Historikertag 2008 zu „Grenzfiguren des Sozialen“ veranstaltet. Die nationale und in­ternationale Sichtbarkeit des Sonderforschungsbereichs war getra­gen vom Ansehen der an ihm beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie lässt sich ablesen an den ihnen in den vergange­nen Jahren zuerkannten Ehrungen und Preisen. Zu nennen sind hier insbeson­dere Aleida Assmann, Julian Junk, Albrecht Koschorke, Jürgen Osterhammel, Rudolf Schlögl und Wolfgang Seibel.

Der Sonderforschungsbereich hat sich unter anderem wegen der Vielfalt der betei­ligten Fächer und der in ihnen herrschenden Publikationskulturen entschieden, seine Forschungsergebnisse nicht in einer eigenen Publikationsreihe zu präsentieren. Aller­dings hat die kulturwissenschaftliche Diskussion im Verbund zur Initiative für eine Reihe „Histori­sche Kulturwissenschaften“, die beim Universitätsverlag Konstanz erscheint, geführt. Das Herausgebergremium (Bernhard Giesen, Alois Hahn, Jürgen Osterhammel, Rudolf Schlögl (geschäftsführend)) agiert unabhängig vom Sonderfor­schungsbereich und wirbt gezielt auch Manuskripte ein, die nicht aus der Arbeit des Verbundes hervorgegangen sind. Arbei­ten aus dem Sonderforschungsbereich werden aufgenommen, wenn sie in der Qualität überzeugen und dem Profil der Reihe entspre­chen. Bislang sind 14 Bände erschienen.

 

2.1    Veröffentlichungen aus dem Sonderforschungsbereich

Für die folgende Auswahl (40 Titel) wurden nur Monographien und Sammelbände herangezogen, die zum Berichtszeitpunkt (Anfang 2010) bereits erschienen waren:

Assmann, Aleida, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öf­fentlichen Inszenierung, München 2007.

Barth, Boris, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deut­schen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933, Düsseldorf 2003.

Barth, Boris, Osterhammel, Jürgen (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltver­besserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005.

Borissova, Natalia, Frank, Susi K., Kraft, Andreas (Hg.), Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhundert, Bielefeld 2009.

Bühler, Benjamin, Rieger, Stefan, Das Wuchern der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens, Frankfurt a. M. 2009.

Bühler, Benjamin, Rieger, Stefan, Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frank­furt a. M. 2006.

Crivellari, Fabio, Kirchmann, Kay u.a. (Hg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004.

d’Alfonso, Lorenzo u.a. (Hg.), The City of Emar among the Late Bronze Age Empires. History, Environment, and Society, Münster 2008.

Feichtinger, Barbara, Lake, Stephen u.a. (Hg.), Körper und Seele. Aspekte spätantiker Anthropologie, München u. a. 2006.

Feichtinger, Barbara, Seng, Helmut (Hg.), Die Christen und der Körper. Aspekte der Körperlichkeit in der christlichen Literatur der Spätantike, München u. a. 2004.

Gebhard, Jörg, Lindner, Rainer, Pietrow-Ennker, Bianka (Hg.), Unternehmer im Rus­sischen Reich. Sozialprofil, Symbolwelten, Integrationsstrategien im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Osnabrück 2006.

Gebhard, Jörg, Lublin. Eine polnische Stadt im Hinterhof der Moderne (1815-1914), Köln u. a. 2006.

Gebhardt, Miriam, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Er­ziehung im 20. Jahrhundert, München 2009.

Gebhardt, Miriam, Wischermann, Clemens (Hg.), Familiensozialisation seit 1933 – Verhandlungen über Kontinuität, Stuttgart 2007.

Giesen, Bernhard, Schneider, Christoph (Hg.), Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs, Konstanz 2004.

Giesen, Bernhard, Triumph and Trauma, Boulder usw. 2004.

Goppold, Uwe, Politische Kommunikation in den Städten der Vormoderne. Zürich und Münster im Vergleich, Köln u. a. 2007.

Grampp, Sven, Ins Universum technischer Reproduzierbarkeit. Der Buchdruck als historiographische Referenzfigur in der Medientheorie, Konstanz 2009.

Grampp, Sven, Kirchmann, Kay u.a. (Hg.), Revolutionsmedien – Medienrevolutionen, Konstanz 2008.

Hengerer, Mark (Hg.), Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Ober­schichten in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2005.

Hengerer, Mark, Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommu­nikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne, Konstanz 2004.

Kraft, Andreas, Weißhaupt, Mark (Hg.), Generationen: Erfahrung – Erzählung – Iden­tität, Konstanz 2009.

Kühnelt, Jörg (Hg.), Political Legitimization without Morality?, Berlin 2008.

Lindner, Rainer, Unternehmer und Stadt in der Ukraine, 1860 – 1914. Industrialisie­rung und Kommunikation im südlichen Zarenreich, Konstanz 2006.

Müller, Michael, Raufer, Thilo, Zifonun, Dariuš (Hg.), Der Sinn der Politik. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Politikanalyse, Konstanz 2002.

Müller, Michael, Stil und Individualität. Die Ästhetik gesellschaftlicher Selbstbe­hauptung, Paderborn 2009.

Murašov, Jurij, Witte, Georg, Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre, München 2003.

Patschovsky, Alexander (Hg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Ostfildern 2003.

Ragg, Sascha, Ketzer und Recht. Die weltliche Ketzergesetzgebung des Hochmittelalters unter dem Einfluß des römischen und kanonischen Rechts, Hannover 2006.

Reckwitz, Andreas, Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008.

Rychterová, Pavlína, Veit, Raphaela, Seit, Stefan (Hg.), Das Charisma – Funktionen und symbolische Repräsentationen, Berlin 2008.

Schlögl, Rudolf (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004.

Schlögl, Rudolf, Giesen, Bernhard, Osterhammel, Jürgen (Hg.), Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Ge­sellschaften, Konstanz 2004.

Schneider, Christoph, Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung, Kon­stanz 2006.

Seebaß, Gottfried, Willensfreiheit und Determinismus, Band I: Die Bedeutung des Willensfreiheitsproblems, Berlin 2007.

Soeffner, Hans-Georg, Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und Schuld, Frankfurt a. M. 2005.

Steinbach, Almut, Sprachpolitik im Britischen Empire: Herrschaftssprache und Inte­gration in Ceylon und den Föderierten Malaiischen Staaten, München 2009.

Vortkamp, Wolfgang, Integration durch Teilhabe. Das zivilgesellschaftliche Potential von Vereinen, Frankfurt a. M. u. a. 2008.

Wollenschläger, Burkard, Wissensgenerierung im Verfahren, Tübingen 2009.

Wünsch, Thomas, Janeczek, Andrzej (Hg.), On the Frontier of Latin Europe. Integra­tion and Segregation in Red Ruthenia, 1350-1600 / An der Grenze des lateinischen Europa. Integration und Segregation in Rotreußen, 1350-1600, Warsaw 2004.

Zakharine, Dmitri, Von Angesicht zu Angesicht. Der Wandel direkter Kommunikation in der west- und osteuropäischen Neuzeit, Konstanz 2005.

 

3       Strukturelle Veränderungen an der Hochschule

Der Sonderforschungsbereich hat über die gesamte Laufzeit hinweg wesentlich zur Konsolidierung und Stärkung der an ihm beteiligten geistes- und sozialwissenschaftli­chen Fächer beigetragen. Er war Anlass für eine Fachbereichsgemeinschaft der Fächer Geschichte und Soziologie, von der entscheidende konzeptionelle Impulse für die kulturwissenschaftliche Forschung in Konstanz ausgingen. Der Verbund stand stets in engem wissenschaftlichem Austausch mit dem Graduiertenkolleg „Die Figur des Drit­ten“ und der Forschergruppe „Grenzen der Absichtlichkeit“, deren Initiatoren und Sprecher (Albrecht Koschorke, Gottfried Seebaß) ebenfalls am SFB 485 beteiligt wa­ren.

Bei der Besetzung der einschlägigen Professorenstellen war die mögliche Mitar­beit der Kandidatinnen und Kandidaten in jedem Fall ein wichtiges Kriterium, das in den Kommissionen, im Rektorat und im Senat jeweils ausgiebig gewürdigt wurde. Im gesamten Förderzeitraum kam es zu keiner Umwandlung einer Professur, so dass dem Sonderforschungsbereich Forschungskapazitäten verloren gegangen wären. Mit der Einrichtung einer Juniorprofessur für Zeitgeschichte (mit tenure track) hat das Fach Geschichte eine Lücke wieder schließen können, die sich durch den Wegfall einer C3-Professur im Solidarpakt aufgetan hatte. Die Beteiligung der ProfessorInnen und Mitar­beiterInnen der Slavistik am Sonderforschungsbereich spielte für die positive Beurteilung des Faches in der landesweiten Evaluierung eine wichtige Rolle.

Die Sichtbarkeit der Konstanzer Geistes- und Sozialwissenschaften kommt in einer Reihe von Rufen an die am Sonderforschungsbereich beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zum Ausdruck. Rufe erhielten im letzen Förderzeitraum

-  Aleida Assmann
-  Ulrich Gotter
-  Albrecht Koschorke
-  Jürgen Osterhammel
-  Andreas Reckwitz
-  Rudolf Schlögl
-  Gottfried Seebaß
-  Wolfgang Seibel

In den meisten dieser Fälle hat die Universität Konstanz mit großem Einsatz erfolg­reich Bleibeverhandlungen geführt, die häufig durch zusätzliche Mittel aus dem Son­derforschungsbereich unterstützt wurden.

Generell erfuhr der Sonderforschungsbereich über die gesamte Förderperiode hinweg eine akzentuierte Unterstützung durch die Universität. Die in den Begehungen vereinbarten Grundausstattungsverpflichtungen wurden stets ohne Abstriche realisiert. Trotz der an der Universität herrschenden Raumknappheit wurde dem Sonderfor­schungsbereich im Verfügungsgebäude Z ein geschlossenes Ensemble von Räumen zur Verfügung gestellt, in dem die meisten Teilprojekte untergebracht werden konn­ten. Diese gemeinsame Unterbringung hat den wissenschaftlichen Austausch im Son­derforschungsbereich wesentlich unterstützt und war damit eine entscheidende Vor­aussetzung für seine erfolgreiche wissenschaftliche Integration.

In der Lehre der Universität hat der Sonderforschungsbereich von Anfang an durch eine Vielzahl von interdisziplinären Lehrveranstaltungen gewirkt, die von Pro­jektleiterInnen und MitarbeiterInnen über Fachgrenzen hinweg gemeinsam veranstaltet wurden. Darüber hinaus gewann das Lehrprofil der Universität nach dem Grundsatz „Lehre aus Forschung“ auch stets dadurch, dass die Themen der Forschungsprojekte in die Lehre einflossen. Die mit der Einführung der BA-Studiengänge verbundenen Kon­zentra­tionserfordernisse haben dies freilich in den letzten Jahren etwas schwerer ge­macht. Insgesamt wurden von den MitarbeiterInnen der Ergänzungsausstattung des SFB in der dritten Förderphase rund 85 Lehrveranstaltungen durchgeführt.

Dem Sonderforschungsbereich kam das Bemühen der Universität Konstanz, sich im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu qualifizieren und die Gleich­stellung zu fördern, in der letzten Förderperiode sehr zugute. Die Universität Kon­stanz ist inzwischen als familienfreundliche Hochschule zertifiziert und hat ihre An­stren­gungen, Kinderbetreuungsplätze zur Verfügung zu stellen, erheblich intensiviert. Der Erfolg dieser Anstrengungen zeigt sich vielleicht am deutlichsten am „Nach­wuchs“: Insgesamt sind in den letzten vier Jahren acht Kinder von Mitarbeiterinnen und Mitar­beitern, die über die Ergänzungsausstattung finanziert wurden, zur Welt ge­kommen.

Die Gleichstellung wird an der Universität Konstanz durch Wiedereinstiegs- und Abschlussstipendien gefördert, die das Gleichstellungsreferat in Zusammenarbeit mit dem Ausschuss für Forschungsfragen und neuerdings auch dem Exzellenzcluster ver­gibt. Der letzte Fortsetzungsantrag nannte 72 Wissenschaftler, davon 19 Frauen. Diese Quote von 26 Prozent liegt leicht unter dem universitären Wert von 30 Prozent für die Jahre 2006/07.

 

pdf: Abschlussbericht Allgemeiner Teil